Dominic Johnson hat am Dienstag einen beeindruckenden Kommentar in der taz geschrieben. Dass es vermutlich kein Zufall ist, dass der IS Dschihad-Kämpfer in Frankreich und Belgien aus der vierten Generation von Einwanderern rekrutiert. Einwanderer aus ehemaligen Kolonien. Die also nicht alle freiwillig eingewandert sind. Die vierte Generation, die sieht, wie ihre Eltern und Großeltern und Urgroßeltern sich in den frankophonen Ländern abgemüht haben - und es nichts gebracht hat. Die sehen, dass das Leben für sie nicht besser geworden ist und nicht besser wird, eben weil sie die falsche Hautfarbe und die falsche Nationalität haben.
Das Problem ist nicht neu, und es haben bereits viele darüber geschrieben. Spätestens seit dem elften September 2011. Da war hier und da die Rede von den Verlierern der europäischen Gesellschaften mit Kolonialvergangenheit. Aber bequemer war es trotzdem, an eine aus dem arabischen Raum konzertierte Aktion zu glauben.
Ich war mit Erasmus in Marseille, als die die Zwillingstürme in New York einstürzten. Gerade erst angekommen, noch auf Wohnungssuche. Noch ohne permanente Live-Berichterstattung durch die schöne, digitale Welt der Smartphones, noch ohne iPad. Ich stand bei der Beratung des Studntenwerks, als eine Freundin aus Deutschland mich anrief und mir das Unvorstellbare sagte. Es wurde ein längeres Gespräch. Ein teures Gespräch, denn Roaming gab es damals auch noch nicht, und ich hatte noch keine französische Karte.
Abends kehrte ich in meine WG zurück, die mich vorerst aufgenommen hatte, bestehend aus einer Finnin, einer Französin, einem Argentinier und mir, der Deutschen. Wir machten den Fernseher an. Wir
sahen die Nachrichten, und machten ihn wieder aus. Den Crash in Dauerschleife, so wie er in Deutschland über die Mattscheiben flirrte - er blieb uns erspart. Weil ich in Frankreich war, erlebte
ich nicht den Medien-Terror wie viele zu Hause. Wir waren geschockt und hilflos. Aber machten irgendwie weiter. Jeder hatte was zu tun.
Man hätte meinen können, dass das Marseille,die zweitgrößte Stadt Frankreichs mit ihrem sehr großen Anteil an nordafrikanischen Franzosen und den Nordafrikanern, die keine Franzosen sein durften
(und immer noch nicht dürfen), veränderte. Aber das Faszinierende war: Nichts passierte.
Der Alltag ging weiter, überall. Die jüdische Gemeinde schützte sich nicht in besonderem Maße, muslimische Moscheevereine und Gruppierungen waren nicht gezwungen, sich zu verteidigen. Klar, der Front National blökte weiter mit einem "Wir haben es ja immer gesagt". Le Pens Partei war ja damals schon stark in Marseille und an der Küste. Aber ein "Clash of Civilizations" blieb aus. Weil man zum größten Teil schon immer irgendwie zusammengelebt hatte. Anders als in Paris, wo ich etwa anderthalb Jahre später für eine Woche sein würde und wo mir eine ältere Dame erklärte, sie fahre wegen der Ausländer und der Kriminalität bestimmte U-Bahn-Linien einfach nicht mehr. Genau, wenn ich mich nur in meinem Radius bewege und die Banlieues ausblende, sind die Probleme dieser Nation vielleicht einfach irgendwann gar nicht mehr vorhanden. Bis es das nächste Mal brannte. Aber da brannte es ja auch "nur" in der Banlieue, nicht in Paris centrale.
Klar gab es Vorurteile auch in Marseille. Viele davon trafen auch zu. Und als Frau, und besonders als blonde, fremde Frau, war das Leben nicht leicht. Aus jedem Hauseingang wurde man angezischelt. Man konnte nicht alleine im Café sitzen und ein Buch lesen oder in die Calanques gehen und seine Ruhe haben - immer gab es irgendeinen Typen, der einen angelabert hat. Wenn wir als zwei Frauen abends ins Kino wollten, mussten wir uns überlegen, wie wir uns den Heimweg organisieren, denn nach 21 Uhr fuhren keine U-Bahnen mehr. Also die Züge der ohnehin nur zwei vorhandenen U-Bahn-Linien.
War es gefährlicher als anderswo? Klar, auch ich hatte "French Connection" gesehen. 1 und 2. Drogen? Klar, sah man schon. Vergewaltigungen? Davon hörte man, allerdings eher aus dem nahen Aix-en-Provence, wo Männergruppen nur die Heimkömmlinge vor den 60er-Jahre-Studentenwohnheimen abpassen mussten.
Ich zog in diesem Wissen bewusst mit einer Erasmus-Kollegin in eine Wohnung ins sogenannte schwarzafrikanische Viertel zwischen Bahnhof und Hafen. Ich wollte nicht ins Wohnheim, wo ein Concierge mir sagt, wann ich ins Bett gehen soll, wo ich nicht spontan Besuch haben darf und wo die Putzfrauen Schlüssel zu allen Zimmern haben. "Was, wo wohnt ihr?" Unsere französischen Kommilitonen, die sich übrigens ja zu Art kulturellen "Quartiersmanagern" ausbilden ließen, deren Job es also eigentlich beinhaltete, mit unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen zu arbeiten, wenigstens zu reden und vor Ort soziologisch teilnehmende Beobachtung zu üben, waren zum großen Teil entsetzt.
In den knapp fünf Monaten ist uns nie was passiert. Klar, es war ein bisschen heruntergekommen. Aber wir kannten all unsere Nachbarn im Haus. Schwarzafrikaner und Nordafrikaner. Wir wussten, wann der eine nach Hause kommt, und dass er dann erstmal schlafen würde, dass ein anderer gerne mal auf dem Balkon Saxophon spielte, dass die junge Frau von unter uns gerne mal ein bisschen Zucker oder Butter lieh - und umgekehrt wir was leihen konnten. Dass der ältere Ex-Seefahrer gegenüber mindestens 12 Wellensittiche haben musste, die teils in ihren Käfigen auch während der Mistral-Zeit draußen hingen und das ein oder andere "See-Beben" erlebten. Ich führte in der Zeit Fernbeziehung nach Utrecht, ebenfalls wegen Erasmus. Alle Pakete und Briefe kamen an, nie war was zerrissen.
Ja, es ist ungewohnt als vielleicht einzige weiße Westeuropäer in einer Straße. Aber es war echt kein Problem. Ich empfand das als angenehm. Angenehmer als die Neid-Debatten an meinem 2-Mal-die-Woche-Studienort Aix-en-Provence, wo es immer drum ging, wer sich geiler aufstellen konnte für die Zukunft, die Jura-Studis oder die Mediziner oder doch die Medien-Leute. Und wer am besten feiern konnte, wessen Eltern wo noch ne Yacht, eine Zweitwohnung, eine weitere Firma oder was auch immer hatten. Die am Wochenende mal eben nach Nizza jetteten. Und bei denen der Apero schon ab 14 Uhr dazugehörte. Täglich.
Ich glaube nicht, dass es sich geändert hat. Dass 2013 europäische Kulturhauptstadt zu sein die Unterschiede eher noch verstärkt hat in Marseille. Weil diese Stadt einfach rau und arm ist. Und bleibt. Und daraus erwachsen weitere Probleme.
Die Medien sind mit schuld. Denn die guten Nachrichten interessieren nicht. So wenig wie meine Kommilitonen interessierte, wie wir im schwarzen Viertel gut lebten und Spaß hatten, interessierte die Welt-Öffentlichkeit nicht, dass nach dem Anschlag auf die USA alles friedlich blieb. Klar, es war die Zeit vor Blogs, vor Social Media, vor Twitter und Instagram und YouTube. Heute wäre das sicher anders. Aber schon damals wollte ich ja Journalistin werden und bot mir bekannten Heimat-Medien entsprechend Geschichten an. Das wurde abgelehnt. Zu uninteressant. Oder es war arte vor Ort und machte mal was. Das langte ja.
Dieselbe Erfahrung machte ich 2007 am Ende meines Volontariats, als wir beim Goethe-Institut zusammen mit dem Auswärtigen Amt das erste Euro-Mediterrane Jugendparlament planten. Wegen der damals ja schon teils instabilen oder nicht vorhandenen Bindungen im Nahen Osten und dem Palästina-Konflikt wollte man als Organisator auf Nummer sicher gehen. Daher gab es für die Jugendlichen aus den arabischen Ländern ein Vor-Treffen in Alexandria. Mit Spannung war eine Kollegin von "Spiegel Online" dabei. Und wollte den Skandal (wittern). Jugendliche aus Syrien (wir erinnern uns: Damaskus stand damals noch in voller Blüte und war konfliktfrei), Israel und Palästina - da musste doch Beef angesagt sein! War aber nicht so. Wieder mal passierte nichts. Denn diese Jugendlichen begegneten sich zum ersten Mal. Zum ersten Mal persönlich natürlich, aber auch das erste Mal jemandem von der vermeintlich verhassten anderen Nation. Ihr Leben lang hatten sie eingetrichtert bekommen, sich hassen zu müssen. Der Hass wird über Generationen vererbt. Und den Streit sollte es dann also "ohne Grund", nur aufgrund der Geschichte geben? Die SpOn-Autorin hoffte darauf. Rechnete damit.
Es kam anders. Es blieb alles friedlich, es fand ein erster ernsthafter Austausch statt, bei dem unter anderem festgestellt wurde, dass manche Probleme, die man als Jugendlicher in diesem Lebensraum zu dieser Zeit hat, vielleicht sogar schwerwiegender sind, als der alte, geschichtliche Konflikt. Darüber wurde nicht geschrieben. Es war "Spiegel Online" keine Geschichte wert. Nach dem Motto "Only bad news are good news" war von Anfang an eine Skandal-Berichterstattung geplant gewesen. Beschäftigte man sich dann nicht mit den Jugendlichen und ihrer Annäherung, weil Erwartungen enttäuscht worden waren? Ist es aber nicht die Pflicht von uns Journalisten, einfach die Wahrheit zu berichten? Auch, wenn diese Wahrheit eben nicht unsere eigene ist?
Natürlich ist der IS-Terror jetzt komplexer als das. Aber es ist die gleiche Ausgangssituation. Wir sind nicht aufmerksam genug. Wir, die Privilegierten. Wir haben unsere eigene Vorstellung, wie etwas sein soll, ein Konflikt, ein Streit, ein gesellschaftliches Phänomen hat in einer bestimmten Weise zu sein. Es ist interessant, so lange es konfliktreich ist. Wenn nicht, dann wenden wir uns ab. Dabei sind die Konflikte ja dennoch da, aber sie sind eben anders. Statt etwas zu begleiten, modellieren wir uns gerne was zusammen im Journalismus, das kurzzeitig funktioniert, in einer Art Weltanschauung, ohne dass es eigentlich die Welt beinhaltet. Und eben nur kurzzeitig. Wir müssen wieder schauen. Und zuhören. Und begleiten. Und dokumentieren. Und uns erst dann ein Urteil bilden. Und vielleicht müssen wir auch mal etwas wertschätzen, wo viele sich zurückgestoßen fühlen. So wie Johnson schreibt, dass der Algerienkrieg der blutigste Kolonialkrieg überhaupt war, es eine Gedenkstätte dafür aber erst seit 2002 gibt, den Gedenktag seit 2012, und 2016 das erste Jahr war, in dem überhaupt ein französischer Staatspräsident ihn beging. Weil wir in unserem westlichen Vorstellungswahn davon, wie die Welt zu sein hat gar nicht mehr sehen, wo Unrecht passiert. Oder passiert ist. Mit entsprechenden Folgen.