Es gibt eine neue Studie zu Sexualitäten und Lebensstilen. Demnach ist Deutschland das queerste Land Europas. Bitte? Genau, ein Dutzend Länder in Europa haben vor uns volle Rechte für Lesben und Schwule, aber wir sind die Sperrspitze der Queerness. Kaum zu glauben.
Nun, es geht aber nicht um Gleichstellung. Oder überhaupt Politik. Andersherum - das vorweg - wäre Position 1 in Sachen Queerness ja auch ein Grund, um endlich mal die Politik der Realität anzupassen. Aber auch darum geht es nicht. Das Motiv des Berliner Marktforschungs-Start-ups "Dalia Research", das die Studie gemacht hat, ist Historismus: Die These, etwa 10 Prozent der Bevölkerung seien schwul oder lesbisch, ist alt. Dalia wollte daher in einer repräsentativen Umfrage in Europa herausfinden, ob man die "LGBT-Bevölkerung neu zählen" kann. Fast 12.000 Europäer wurden dafür befragt. Nicht am Telefon, sondern web-basiert in moderner Online-Kommunikation (soll heißen: nicht über ein Online-Formular auf einer Website).
Methode: die alte Kinsey-Skala
Ergebnis: 6 % sagen von sich selbst, sie seien LGBT, in Deutschland sogar 7,4 % - der damit höchste Wert eines Landes. Wie aber kommt dieses Ergebnis zustande? Wurde dabei zum Beispiel reflektiert, dass hierzulande so viele Menschen zu ihrer sexuellen Neigung stehen können, weil es ihnen im Vergleich zu, na, sagen wir Ungarn (1,4 %), gut geht, und sie wenig verfolgt, dumm angemacht, bedroht werden? Wie wurde Queerness definiert? Jedenfalls nicht modern, denn Grundlage war auch für die neue Studie im Jahre 2016 die Kinsey-Skala von 1948 bzw. 1953, die zwar unterschiedliche Ausprägungen von Hetero- und Homosexualität und auch Asexualität misst, aber zB eben nicht Transsexualität. Und vor allem durch einen Fragebogen, der versucht, sexuelle Erregungen abzufragen. Das ist durchaus umstritten, jedenfalls in der Soziologie.
Sexuelle Identität ist viel mehr als Sex
Sexuelle Identität bzw. Queerness ist aber eben sehr viel mehr als Sex. Und so liefert auch die Dalia-Studie vereinfachende, stereotype Ergebnisse wie zB die Ableitung, es gäbe mehr lesbische Frauen bzw. mehr Frauen würden sich als tendenziell lesbisch oder bi definieren, weil mehr Frauen lesbische Pornos gucken. Und dann gibt es so Jugend-Medien wie das Magazin "jetzt" der "Süddeutschen", die schreiben das auch so - und finden diese angebliche neue Vielfalt ganz toll.
Film <--> Realität
Mal abgesehen davon, dass man allein Abhandlungen darüber schreiben könnte (oder Studien führen) darüber, welche Frauen- und Rollenbilder in Pornos auch mit lesbischen Handlungen so transportiert werden und ob die mit der eigenen Sexualität korrespondieren, so ist doch wohl klar, dass solch eine einfach Korrelation schlicht falsch ist, weil sie Fiktion mit Realität kreuzt. Ich mag auch Thriller, aber deswegen bin ich nicht eher eine potenzielle Messerstecherin als eine andere Frau in meiner Alterskohorte.
"Survey is imperfect"
Immerhin zugute halten muss man Dalia, dass sie ihre Studie selbst für nicht perfekt halten, da sich immer noch 8 % der Befragten nicht trauten, zu antworten und 12 % nicht antworteten, wie sie ihre Sexualität beschreiben würden. Die Berliner räumen ein, dass das daran liegen mag, wie gefragt wurde, denn die eigene Sexualität ist ja ein sehr persönliches Thema, auch, wenn es anonymisiert behandelt wird.
Ein anderes Problem: Dalia arbeitet mit Targeting und fast ausschließlich online-basiert. Damit erreicht man nicht jede Zielgruppe/Alterskohorte gleich gut.
ABER: Was die neue Studie auf jeden Fall zeigt: Ein Europa der jungen Menschen wäre auf jeden Fall ein bunteres, offeneres. Wenn denn diese jungen Menschen auch politisches Gewicht hätten.
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