(Foto: EveryPicture unter CCO)
Populismus dient Distinktion. Ob etwas, das als Behauptung im Internet herausgeschrien wird, nicht stimmt, einseitig oder gar eine Drohung für das (meist anonyme) Gegenüber ist, ist in der aktuellen Debatte um Hasskommentare und Fake News nicht wichtig. Die Wahrheit über Populismus im Netz ist: Es geht wie früher um Meinungs- und Deutungshoheit von einzelnen Gruppen. Weil wir auch 2016 nicht gleich sind, auch wenn die Politik darauf beharrt. Und uns das, auch in der kleinen Echokammer von Facebook, Macht bringt. Wenn auch negativ und wenn auch nur für Warhols 15 Minuten – oder noch nicht einmal die. Aber sehr leicht lässt sich im digitalen Zeitalter Klassen- und Gruppenzugehörigkeit herstellen. Und sie wird benötigt, um sich in einer immer komplexer und komplizierter werdenden Welt zurechtzufinden.
Wir alle wissen es: Artikel 3 des Grundgesetzes regelt die Basis unseres Zusammenlebens. Der sogenannte Gleichheitsgrundsatz verbietet im Grundgesetz, jemanden wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens oder seiner religiösen oder politischen Anschauungen zu benachteiligen oder zu bevorzugen. Der Gleichheitsgrundsatz bindet außerdem Legislative, Exekutive und Judikative. Gesetzgebung. Er gebietet, aufgrund des jeweiligen Tatbestandes Gleiches rechtlich gleich zu behandeln.
Auch das virtuelle Zusammenleben soll noch nach einem Gleichheitsansatz gelingen. Das weltgrößte soziale Netzwerk Facebook hat so in seinen Gemeinschaftsstandards unter anderem festgelegt, dass andere Meinungen toleriert werden sollen, niemand aber aufgrund von Rasse, Ethnizität, nationaler Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Geschlecht bzw. geschlechtlicher Identität oder schwerer Behinderung(en) oder Krankheit(en) beleidigt und/oder diskriminiert werden soll. „Wenn Personen Inhalte auf Facebook teilen, erwarten wir, dass sie dabei verantwortungsbewusst handeln und sorgfältig auswählen, wer diese Inhalte sehen kann“, heißt es dort unter anderem. „Unser Ziel ist es, den Menschen das Teilen von Inhalten zu ermöglichen und die Welt zu vernetzen.“
Gleichheit ist in der digitalen Welt kein Ziel – es gibt sie auch nicht
Das Problem dabei, wenn es um Kommunikation sowohl in der realen als auch der digitalen Welt geht: Im Grundgesetz ist angelegt, dass Menschen unterschiedlich sind. Bei Facebook nicht unbedingt. Vielfalt ist kein hehres Ziel von Mister Zuckerberg, sondern Vernetzung. Und Vernetzung heißt: möglichst viele Verbindungen, möglichst viel Timeline-Aktivität und Verbleib in Gruppen und auf Nachrichten und Posts, um möglichst lange überhaupt im Netzwerk zu verweilen und damit werberelevant zu sein – wo die Unterschiede dann natürlich doch eine Rolle spielen.
Teilhabe und Konsum in der digitalen Gesellschaft heute sind nur auf den ersten Blick gleich für alle (abgesehen davon war das Internet noch nie gleich, noch nie demokratisch, aber das ist eine andere Debatte.). Teilhabe an Facebook gibt's für alle, aber sie ist nicht gleich für alle. Und die Menschen wollen auch nicht, dass sie gleich ist, dass sie gleich sind. Beziehungsweise macht es uns nicht automatisch gleich, wenn andere sagen, dass die oben genannten Faktoren keine Rolle spielen.
Teilhabe und deren Habitus war schon immer ein Schlüssel in der Soziologie
Durch Teilhabe wird der Status, wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Schicht immer wieder reproduziert und bestätigt. Seit Pierre Bourdieus feinen Unterschieden wissen wir, dass dem so ist und Schichtunterschiede auch in Geschmack und Habitus (weiter) existieren, seit der Kulturindustrie von Adorno und Horkheimer, dass diese Unterschiede sogar entscheidend sind für die Produktion und Konsumption von Kultur und seit den Cultural Studies, vor allem dem Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall, wissen wir, dass sie sogar entscheidend sind für Medien- und Nachrichten-Produktion und -Verstehen. All diese Soziologen haben auf ihre Weise und zu ihrer Zeit mit den spezifischen gesellschaftlichen Gegebenheiten deutlich gemacht, dass alles gelenkt sein kann, weil die Mittel über Produktion und Konsum machtvoll sind, und der bestehende Status Quo von Gesellschaft damit sogar bestätigt und fortgeführt wird. Selbst die Etablierung dessen auf semantischer Ebene lässt sich nicht so einfach durchbrechen. Sie ist schlicht systemrelevant.
Populismus ist ein Instrumentarium der Distinktion
Meine These: Daher sind Hate Speech und Populismus Instrumentarien der Distinktion. Und sie verleihen Macht. Und sei es nur für Warhols 15 Minuten oder nicht mal die.
Denn man kann sich auch im heutigen Zeitalter nicht von all den anderen Faktoren lösen, die einen unbewusst prägen und beeinflussen. Und wenn man sonst untergeht in diesem World Wide Web, dort genauso der kleine Mann ist wie im „echten“ Leben“, dann ist das langweilig. Dann ist ja auch die Teilhabe eigentlich zu gar nichts nütze. Der Mensch strebt nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Und daher muss man sich bestätigen und der jeweiligen Gruppe bestätigen, dass man dazugehört. Dem „Doing gender“ von West/Zimmerman von 1987 würde ich bald 30 Jahre später unbedingt ein „Doing social“ ergänzen. Wir reproduzieren uns und unseren Status und Habitus in der sozialen Kommunikation, natürlich auch im Internet.
Rechtspopulismus ist populärer denn je
Momentan vielleicht sogar mehr als noch vor 15 Jahren. Denn die Welt ist komplizierter geworden, es ist sehr viel anstrengender, sich in ihr zu behaupten und dann auch noch Anerkennung und Zugehörigkeit zu finden, erst recht. Gleichzeitig war es für solch ein „sich sozial Produzieren“ nie günstiger, denn das Agitieren tritt bisweilen auf gepaart mit Politikverdrossenheit (u.a. weil die Politik nicht müde wird, uns zu erzählen, dass wir alle gleich sind und alle gleich behandeln müssen) und/oder einer neuen "Parallel-Öffentlichkeit" durch Leute wie Sarrazin, Ulfkotte, Medien wie die des Sven-von-Storch-Universums, dem Kopp-Verlag, Compact etc.. Für mich eine „Parallel-Öffentlichkeit“, weil diese Meinungen in den etablierten Medien nicht vorkommen, daraus aber u.a. ihre Existenzberechtigung ziehen: Seht her, weil wir die Wahrheit sagen, beachten uns die Systemmedien nicht! Dies ist meines Erachtens einer der Hauptgründe dafür, dass sich political correctness verschoben hat zu dem seit etwa anderthalb Jahren etablierten „Das wird man ja wohl noch mal sagen dürfen!“.
Die Grenze zwischen Meinungsäußerung und Populismus wird dabei wie nebenbei fließender. Gesellschaftlich ist erlaubt, was früher nicht ging, was freilich nicht heißt, dass es vorher nicht da war. Jetzt wird diese Meinung, und äußert sie sich auch radikal-verletzend gegenüber anderen, sogar zur Existenzberechtigung.
Zusätzliches Problem: Es findet keine Debatte statt, kann auch gar nicht, ist außerdem eigentlich auch gar nicht gewünscht, siehe Pegida und „Demo für alle“, und dieser Umstand ist zusätzlich Nährboden für diesen neuen Populismus. Und, seien wir ehrlich: Weil es in unterschiedlichen Gruppen auch unterschiedlich mit der Bildung bestellt ist, herrscht teilweise auch wenig Medienkompetenz vor. Und, noch ein Paradox, dass das Phänomen Populismus quasi aus sich selbst zieht dabei: Belehrung und es besser zu wissen, ist auch nicht erwünscht.
Eine Art „aktive Schweigespirale“
Dabei kann ja auch jeder ohne Probleme nicht nur bei seinen Medien, sondern auch innerhalb seiner Filterblase auf Facebook bleiben, er hat ja maßgeschneiderte Newsfeeds, auch bei Twitter, so dass die technische Struktur quasi Nachrichten und Meinung(en) vorgibt. Stuart Hall hätte an den jetzigen Strukturen von sozialen Netzwerken und Nachrichten-Konsumption seine helle Freude. Und es bestätigt ihn im hohen Maße nachträglich: Schon wie etwas dekodiert wird, ist „die Message“, nicht unbedingt, wie sie enkodiert wird bzw. wird die Nachricht dann auch in dem Sinne des Produzenten entschlüsselt und damit findet ein Klassenerhalt, aus heutiger Sicht gesprochen eine Gruppen-Zugehörigkeit statt – ohne dass die Konsumenten es gar merken.
Daher sind die beiden Facebook-Studien "Filter Bubbles, Echo Chambers and Online News Consumption" von Seth Flaxman et al. (April 2016) und "Exposure to ideologically diverse News and opinion on Facebook“ von Eytan Bakshy (2015) nicht nur für Medienwissenschaftler und Journalisten interessant, sondern auch für Soziologen. Sie bieten quasi die Beweisführung dafür, wie Echo-Kammern Brandbeschleuniger für Populismus sind und damit ganze Bevölkerungsschichten in sich selbst bestätigen – und fleißig weiter innerhalb der Gruppe dazu ermutigen, selbst populistisch aktiv zu werden. Quasi eine aktive Form von Noelle-Neumanns „Schweigespirale“.
Beispiele für (unbewussten) Internet-Populismus
Das neueste Beispiel dazu ist sicherlich in Trumps Wahlkampf zu finden. Aber es gibt auch schon viel ältere Beispiele, vor allem aus dem Jahr 2014, das Jahr, in dem der Internet-Populismus seinen Aufschwung nahm. Da wäre zum Beispiel der ideologische Kampf um den Bildungsplan in Baden-Württemberg, zu dem ein Entwurf eines Arbeitspapiers im Herbst 2013 geleakt wurde und dann „besorgte Bürger“ und die AfD auf den Plan rief, Kinder bloß nicht gegen den Willen der Eltern „frühzusexualisieren“. Ein Realschullehrer aus dem Schwarzwald startete eine Online-Petition gegen den Bildungsplan, obwohl die Inhalte noch weit von arbeitstauglich entfernt waren, die „Demo für alle“-Bewegung unter Hedwig von Beverfoerde und, damals noch dabei, Beatrix von Storch, gründete sich. Vieles, was da als Meinung von sich gegeben wurde, ist nach soziologischer Definition ganz klar Populismus. Die Akteure versicherten sich ihrer selbst, Distinktion gegenüber der politischen Klasse fand statt. Und außerdem wurden ihre Gegner drangsaliert und regelrecht gestalkt, vor allem auf Twitter (ja, auch ich war davon betroffen). Alle mit anderer Meinung wurden als „Feministenfotzen“ und „linksgrün-versifft“ diffamiert. Noch lange bevor die Medien diesen Kampf überhaupt wahrnahmen, erreichte er in sozialen Netzwerken seinen traurigen Höhepunkt. Zwei Bloggerinnen, die maßgeblich zur Aufklärung über die Bildungsplan-Gegner bis zum Frühjahr 2014 beigetragen haben, fühlten sich dermaßen verfolgt und bedroht, dass sie komplett offline gingen. Eine von ihnen ist bis heute nicht wieder zum Netz zurückgekehrt und hat psychologisch immer noch mit den Anfeindungen und Bedrohungen zu kämpfen. Die Bewegung ist inzwischen erstarkt, hat sich zur europäischen Initiative ausgeweitet und hat teils sogar politischen Einfluss, zwar nicht in Baden-Württemberg, aber in anderen Bundesländern, aktuell gravierend in Bayern, wo die allein regierende CSU sich ja auch in anderen Belangen nicht vom Populismus der AfD distanziert.
Da wäre 2014 noch die riesige Sexismus-Debatte in der Gamer-Szene, die einen Mitarbeiter der ESA so dermaßen an den Pranger stellte, dass es mit „Aufklärung“ über sein Fehlverhalten bei einer öffentlichen Präsentation überhaupt nichts mehr zu tun hatte. Und wer jetzt immer dachte, Frauen seien die besseren Menschen, der glaubt nicht, was alles unter dem Deckmäntelchen von Feminismus an Populismus und Diffamierung möglich ist. Sogar Vergewaltigung wurde dem Mann gewünscht. Leute machten sich die Arbeit, Reaktionen aus dem Netz zum Vorfall als YouTube-Video zusammenzuschneiden, als Art „Best of Hate“, und viral zu verbreiten. Dass der Mann nicht zusammengebrochen ist, ist wohl seiner starken Psyche zu verdanken.
Das sind nur zwei Beispiele, wenn auch zwei gravierende. Sie fanden wohl bemerkt lange vor der Flüchtlingskrise statt.
Heute reden wir lieber von „Fake News“
Heute sprechen wir von „Fake News“, und Regierungen überlegen, wie sie auf die Verbreitung dieser Einfluss nehmen können und welche juristischen Mittel für eventuell neue Straftatbestände ausgespielt werden sollten. Mal abgesehen davon, dass das die Inhalte weiterhin in den Vordergrund stellt und wir uns schon wieder nicht um die Opfer kümmern und was das alles eigentlich mit unserer Gesellschaft macht: Eigentlich ist es in diesem Stadium schon zu spät. Der Populismus und die Bildung von populistischem Gedankengut geschieht schon viel früher. Und er ist auf der rechtspopulistischen Seite seit jeher mit Rassismus verbunden, wie die Soziologin Karin Priester in zahlreichen Publikationen schon ab 2007 deutlich machte.
Populismus steht immer in Relation zu „dem anderen“
Laut ihrer Definition ist Populismus „kein Substanz-, sondern ein Relationsbegriff“, er kann also nicht aus sich selbst heraus, sondern nur im Verhältnis oder in Abgrenzung zu einem anderen definiert werden. Und genau das ist, was gerade massiv passiert im Netz. Kein Populismus ohne Abgrenzung, weil dadurch immer auch gleich „das andere“ und der andere definiert wird. Was im Umkehrschluss heißt, dass man sich selbst dadurch verortet. Mehr noch: dadurch Identifikation und Identität erlangt. Eben Distinktion als gruppenerhaltende und -konstituierende Maßnahme. Bewusst und unbewusst, direkt und indirekt. Nur muss dafür erst eine „Entwirklichung“ stattfinden, von der Hannah Arendt schon in den 1950ern in ihren Theorien von Herrschaft formulierte.
Fazit: "Entwirklichung" (Hannah Arendt) für Status(-Erhalt)
"Die Debatte ist vergiftet", heißt es jetzt. Facebook ist ja gar nicht demokratisch, stellen jetzt Medien-, Politikwissenschaftler und Journalisten erschrocken fest - jeder kann in seiner Filterblase verharren und wird von anderen Sichtweisen verschont, die Gesinnungswelten werden weiter segregiert. Die Autokraten dieser Welt bemächtigten sich der sozialen Medien für ihre Zwecke, Wahrhaftigkeit sei ihnen dabei egal (ach was!). Political correctness sei ja in sozialen Netzwerken noch verpönter als in den meisten traditionellen Medien, könnte man in einer Art Analyse sogar in der „Süddeutschen“ lesen. Mal abgesehen davon, dass man langsam die Frage stellen muss, ob die Zeitung noch ein traditionelles Medium ist bzw. ein traditionelles Medium automatisch demokratischer, glaubwürdiger und weniger distinktionsgeil ist: Leute, wacht mal auf, es gab nie eine Debatte. Und Facebook war nie demokratisch.
Politische Realitäten sind weit weg. Um es mit Arendt zu sagen: alles, was unbequeme Tatsachen sind, wird zu Meinungen des Gegners oder der anderen erklärt. Damit ist die eigene Welt immer noch in Ordnung, die eigene Meinung ist nicht falsch, und es wird keine Debatte geführt. Am allerwichtigsten aber: Meine Distinktion gegenüber der anderen Gruppe bleibt erhalten. Und in der Art und Weise, wie ich mich durch meine populistische Aktion unterscheide, symbolisiere ich die Zugehörigkeit zu meiner eigenen Gruppe. Das verleiht ein unglaubliches Machtgefühl. Ich habe für mich, aber auch für die anderen, die eh nie gehört werden, gesprochen. Kann mich dadurch noch bestätigt fühlen, dass die anderen Gruppen mich schon wieder nicht wahrnehmen wollen. "Die Wahrheit zwingt zur Einsicht", so Hannah Arendt. Aber "die Lüge impliziert Freiheit". Es ist eine Entwirklichung, die da stattfindet.
Der Populismus beflügelt diese Freiheit. So wie es jetzt im Journalismus heißt, es müsse wieder mehr um die „Benachteiligten“ und Vergessenen gehen, sollte es in der Soziologie wieder darum gehen: Welche Klassen und Gruppen bilden sich gerade heraus, welchen Habitus haben sie und wie kommt man eigentlich an ihr Distinktionsdenken heran? Man kann Populismus nicht verhindern, und es ist gerade auch schwer, ihn zu bekämpfen. Aber man kann an den Ursachen drehen. Eine soziologische und eine politische Aufgabe im Sinne von „Politik ist angewandte Liebe zum Leben“. Denn, wie ebenfalls Hannah Arendt in „Was ist Politik?“ schrieb: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“. Aber eben eine demokratisch geprägte Freiheit aller. Damit wir irgendwann vielleicht wirklich gleich sind – auch im Netz.
Anmerkung: Dieser Essay wurde aus bereits vorhandenen Schnipseln für einen Call of Papers des Soziologiemagazins zusammengefasst.
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