Ein alter Studienfreund von mir hat letztens auf Facebook seine Bücher des Jahres veröffentlicht. Das brachte mich auf die Idee, dass ich da auch mal drüber nachdenken sollte. Die schlechte
Nachricht daran zuerst: Ich habe leider vermutlich dieses Jahr mehr über Bücher gelesen, als dass ich Bücher gelesen habe. Leider vor allem zu wenig Romane. Aber ich glaube, immerhin mehr als
2015. Und dann natürlich nicht nur neue Bücher. Dafür gab es dieses Jahr aber großartige neue Bücher. 2017 ist eine neue Chance, großartige Bücher zu entdecken.
Zu allererst: die viel gelobte Kate Tempest
Sie ist die alternative Künstlerin, auf die sich 2016 alle einigen konnten und damit eben gar nicht mehr so alternativ, da Feuilleton-Liebling: Kate Tempest. Als Musikerin und
Spoken-Word-Künstlerin, wie auch als Autorin von Gedichten, die ganze Kurzgeschichten erzählen. In diesem Jahr ist auch ihr Debütroman "The bricks that built the houses" (Deutsch:
"Worauf du dich verlassen kannst") erschienen. Die Geschichte der vier Süd-Londoner Becky, Harry, Leon und Pete, die sich auch in Tempests Album "Everybody down" spiegelt. "All I ever
wanted to be was good enough", sagt der Vater des langzeitarbeitslosen Pete an einer Stelle. Und genau darum geht's. Dieses gute Überleben in einer der teuersten und zugleich abgefucktesten
Metropolen Europas packt Tempest in wunderschöne, oft auch schmerzhafte Sätze. Unbedingt im englischen Original lesen. "It's true if you believe it"!
Das deutsche Debüt des Jahres
Es gibt nur zwei Schreibschulen in Deutschland, das Literaturinstitut in Leipzig und den Studiengang Kreatives Schreiben in Hildesheim, wo ich auch war, wenn auch im Mutter-Studiengang
Kulturwissenschaften. Und es gibt nur zwei Lager in Deutschland, wenn es darum geht, ob literarisches Schreiben zu erlernen ist. Die Vielzahl an gleichförmiger, nabelschauender Debüts aus
Hildesheim und Leipzig, die in der Masse an Neuerscheinungen nicht weiter wahrgenommen werden, geben wohl den Kritikern recht, dass es nicht langt, schreiben zu können, sondern dass man auch
etwas erlebt haben muss - was als Studi mit 19 halt eigentlich einfach nicht geht.
Es gab 2016 eine Ausnahme, die damit die Regel des anderen Lagers bestätigt, nämlich dass es egal ist, ob ein Autor das, was er beschreibt, selbst erlebt hat oder nur einfach gute Ideen und
genaue Beobachtungen gut umsetzen kann. Diese Ausnahme war Philipp Winkler aus Hannover, der in Hildesheim studiert hat. Sein Buch "Hool" war noch nicht erschienen, aber schon
für den Deutschen Buchpreis nominiert, auf der Shortlist!
Völlig gerechtfertigt. Hier ist einer, der wieder was zu erzählen hat. Wenn auch in der Ich-Perspektive, aber mit einem gesellschaftlich brisanten Kontext. Winkler ermöglicht ein Eintauchen in eine Subkultur, die der Mainstream immer noch nicht gut genug kennt, die aber fasziniert, weil sie an der Grenze zum Illegalen lebt: Hooliganismus. Das hat man zuletzt bei Clemens Meyer in "Als wir träumten" gelesen, übrigens Leipzig, übrigens ein Debüt, das den Deutschen Buchpreis gewann, vor zehn Jahren.
Alle zehn Jahre eine herausragendes Schreibschulen-Debüt - krasser Schnitt, aber so lohnt das Warten, muss man sagen. Winkler schreibt mitreißend aus einer rauen Welt, die aber genug eigentlich
sanfte Typen beherbergt, die alle dasselbe wollen wie wir Normalos oder die jungen Menschen bei Kate Tempest: ein gutes Leben, eine Beziehung, ausreichend Geld, ein bisschen Spaß und Abwechslung
am Wochenende.
Der Überraschungsroman
Wir bleiben bei diesem Themenkomplex mit den irgendwie liebenswerten Verlierertypen und dem bisschen Kriminalität für die Suche nach dem besseren Leben. Und auch wie Kate Tempest kommt Silke
Scheuermannn eigentlich aus der Lyrik, hat aber jetzt mal wieder einen Roman veröffentlicht. Und was für einen! "Wovon wir lebten" ist mein absoluter Lieblingsroman dieses
Jahres.
Der Frankfurter Marten kommt aus einem problematischen Elternhaus. Seine Mutter säuft, seinem Vater ist alles egal, leider auch die viel jüngere Schwester, und Marten wird in jungen Jahren als
Drogen-Kurier eingespannt, so lange er minderjährig ist. Da er auch viel für Sex übrig hat und schöne Frauen, gibt es auch die ein oder andere Schlägerei, und Marten wandert zwischendrin auch mal
ein paar Tage in den Bau. Bei der Resozialisation trifft er Peter, der Martens Koch-Talent entdeckt. Die Beiden machen ein Restaurant auf, Marten als Underdog wird bald der neue Star der
Ausgeh-Szene der Banken-Metropole. Aber dann holt ihn doch noch die Vergangenheit ein. So weit die Geschichte von Scheuermanns neuem Roman. Ziemlich klischeehaft, dann noch auf Backstein-Größe
erzählt – man vermutet schlimme verfloskelte Zähigkeit eines modernen Bildungsromans. Aber nein, die Wahl-Offenbacherin, die sonst eher in der Lyrik zu Hause ist, erzählt mit Witz und
Einfühlsamkeit eine Geschichte über das Erwachsen-Werden, wie sie zuletzt die Herren von der Kategorie eines Jonathan Franzen nicht mehr hinbekommen haben. Da läuft nicht nur Rhein-Main-Fans das
Wasser im Mund zusammen.
Der Klassiker, der leider nicht für den Buchpreis nominiert war
Mir ist der etablierte Literaturbetrieb recht egal. Aber eine Sache verstehe ich absolut nicht: dass Juli Zeh mit "Unterleuten" nicht für den Deutschen Buchpreis nominiert war.
Dieses Buch hat alles richtig gemacht: aktuelle, gesellschaftsrelevante Themen, interessante Charaktere, den Geist der Zeit (andere sagen: das gesellschaftliche Klima) eingefangen, Spannung, ohne
opulent zu wirken, eine Entwicklung gemacht, ohne selbstreferentiell zu nerven oder sich in Geschlechterbildern zu ergehen, wie es die amerikanischen alten Herren gerne machen. Nicht mein
Lieblingsroman, aber mit Sicherheit der wichtigste Roman des Jahres. Und wer wie die FAS-Wirtschaftsredaktion denkt, es gehe nur um Windkraft, der hat es nicht verstanden.
Der Popkultur-Klassiker
(den ich noch nicht gelesen habe). Was, spinnt die, die empfiehlt ein Buch, das sie noch nicht gelesen hat!? Ja, weil Thomas Meinecke mit seinen Cultural-Studies-Bricolage-
Ground Control to Major Tom
David Bowie ist wie so viele ganz Große 2016 leider gestorben. No ground control anymore. Aber mit einem populären Wissenschaftsbuch aus England kann man trotzdem ins Weltall fliegen. Ich habe in
Darmstadt, Home to ESOC, European Space Operations Centre, gelebt. Da begeistert man sich früher oder später für Raumfahrt. Oft ist vieles der Materie aber dennoch total kompliziert, und wenn man
nicht ständig einen leidenschaftlichen ESA-Mitarbeiter an seiner Seite hat, der einem die Sterne quasi runterholt auf die Erde und alles vereinfachend erklärt, ist man aufgeschmissen. Auch gibt
es gute Bücher, die populärwissenschaftlich unterhaltsam erklären können, eher nicht in Deutschland. Im südhessischen mairisch-Verlag ist aber eins erschienen dieses Jahr. "SPACE - Eine
Entdeckungsgeschichte des Weltalls" erklärt einfach und doch spannend und umfangreich, wie und warum Planeten sich bewegen und warum uns das seit Jahr und Tag so fasziniert. Das
kurzweilige Sachbuch ist die Übersetzung von "The Secret Life of Space" der Astronomen und BBC-Weltraum-Experten Heather Couper und Nigel Henbest, das 2015 erschien. Übersetzt hat es Daniel
Beskos - mit dankenswert supersuperwenigen Fußnoten.
Das wiederentdeckte Buch
Apropos populärwissenschaftliche Bücher aus England: "Man walks into a Pub" des britischen "Bier-Papstes Pete Brown ist zwar schon vor längerem erschienen, aber ich habe es (und
seine nachfolgenden Bücher zu Bier) aber 2016 entdeckt, dank der Empfehlung eines guten Freundes. Brown umreißt auf anekdotenreiche, witzige Art nichts weniger als die Kultur- und
Sozialgeschichte des Trinkens seines Heimatlandes von "schon immer" bis zur Craftbier-Revolution jetzt (mehr über Craftbier und Bier allgemein übrigens auf meinem anderen Blog drüben). Information wird in lebendige Geschichten eingeteilt, so dass man das Gefühl hat, man würde mit Pete bei ein
bis 13 Pints in einem der wiedererstarkten viktorianischen Pubs sitzen und einfach nett plaudern. Mal abgesehen davon, dass man generell zu Bier viel lernt, wird deutlich, warum Trinken und vor
allem das Trinken in Pubs für die Briten viel mehr ist als nur Alkoholkonsum. Auch wenn viele Briten auch heute noch ein gespaltenes bzw. "Mir-doch-egal-Hauptsache-Bier"-
Noch mehr für Neubierige
Wir bleiben beim Gerstensaft. Denn es sind dieses Jahr wirklich gute, neue Bier-Bücher erschienen. Obwohl:
Eigentlich ist schon alles gesagt über Bier hierzulande. Und am Ende hat sowieso jeder in Franken zum Gerstensaft eine eigene Meinung und einen eigenen Geschmack. Weil die Sache mit Franken und dem Bier aber eine schier unendliche Liebesgeschichte ist, haben sich in diesem Jahr erneut vier unerschrockene Hopfen-Ritter auf den Weg gemacht und in alten und neuen Brauereien und Gasthäusern todesmutig bis zur Trunkenheit erforscht, was der Franke unbedingt noch kennen muss außer dem Bier von nebenan.
Zum einen waren Anders Möhl und Elmar Tannert in wechselnder Begleitung unterwegs, um das eigentlich unmögliche Unterfangen zu bewerkstelligen, aus mehr als 300 Brauereien für "33 Biere. Eine Reise durch Franken" die besten 33 Biere herauszusuchen. Natürlich sind sie gescheitert. Aber zu den ausgewählten erzählen sie stets eine Geschichte, aus Kulturgeschichte, Kulinarik oder Lokalkolorit. Da verzeiht man als Bier liebende und lesende Frau auch so manche unnütze „überblümelige“ Ausschmückung oder Ausdrücke wie „die vollbusige Kellnerin“. Und auch das Vorwort von Matthias Egersdörfer hätte es zur Adelung nicht unbedingt gebraucht.
Martin Droschke und Norbert Krines hingegen erforschten für den "Craft-Beer-Führer Franken" die neue fränkische Welt der Craftbiere, jener stärker gehopften Aroma-Bomben, die so angesagt sind und dem Bier vor allem in Großstädten bei jungen Menschen zu neuem Ansehen verhelfen. Sage und schreibe 56 Orte, darunter auch altbekannte, die jetzt was Neues machen, werden in liebenswürdigen Porträts vorgestellt, zusätzlich gibt es nutzwertige Tipps für noch mehr Bieriges in Franken. Und es wird klar: In Franken war schon vieles „Craft“, also handgemacht, bevor es den Hype gab. Der Überblick macht aber Lust, auch die älteren Biere neu zu entdecken. Beide Bücher also lesenswert, bei einem Seidla sowieso.
Und dann hab ich auf dem Städtetrip nach Wien auch noch eins entdeckt (übrigens gibt's in Wien den größten Craft Beer Store Europas, mit begehbarem Kühlschrank, so was will ich
auch!): "Na pivo - Eine mährisch-böhmische Bierreise" von Beppo Beyerl. Der schreibt sonst über Wien und die Wiener. Jetzt hat er mal in Tschechien das gemacht, was er sonst zu
Hause macht, nämlich Bier trinken und die Leute dort porträtieren, Wirtshäuser, Bahmhöfe, wichtige Plätze besuchen, schauen, was die Leute bewegt und wie sie ihr Bier konsumieren und herstellen.
Klar, dass das nicht nur für jeden bierinteressierten Österreicher Pflichtlektüre ist, sondern auch für einen Oberfranken und sonstigen Hobbytrinker aus deutschen Landen. Allerdings hat Beyerl
bei seiner letzten Station Pilsen eine entscheidende Brauerei vergessen: Raven des Australiers Filip Miller (seine Mutter ist Tschechin). Aber man kann ja noch mehr Bücher schreiben und noch mehr
bierreisen.
Und zum Schluss for something completely different
Es kann nur ein essayistisches Sachbuch geben 2016, das in eine Hitliste gehört: "Gegen den Hass" von Carolin Emcke. Weil Rassismus, Fundamentalismus und gesellschaftliche
Phobien demokratiefeindlich sind und wir alles tun müssen, damit der Hass nicht noch mehr an Boden gewinnt. Emcke hilft wie immer mit ihren Büchern zu verstehen. Verstehen, um ein Handeln zu
entwickeln. Denn wir haben nur ein Leben. Ziviler Widerstand, jetzt!
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