Die „tageszeitung“-Redakteurin Fatma Aydemir hat einen Roman geschrieben. Über das Dasein als türkisches Mädchen der dritten Generation in Deutschland. Und dafür gespaltene Kritik geerntet. Vermutlich, weil sie eine Frau ist und ihre Anti-Heldin in „Ellbogen“ ein Mädchen. Unerklärbare Gewalt und Chancenlosigkeit bei weiblichen Migrantenkindern – das scheint immer noch ein Tabu zu sein in Deutschland. Dabei müssen wir dringend darüber reden.
In der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ hat jetzt am Sonntag der Korrespondent Michael Martens unter dem Titel „Für immer Türke“ die Inhaftierung des Kollegen Deniz Yücel kommentiert. Statt Solidarität zu äußern, hat er aber die Angelegenheit zum Anlass genommen, den Herkunftsjournalismus deutscher Medienhäuser in Frage zu stellen. Das Fazit, wenn man es kurz fassen möchte: Die „Welt“, also damit Springer, ist selbst mit dran schuld, dass Deniz inhaftiert ist. Denn warum schickt die Zeitung auch einen Türken in die Türkei, noch dazu einen, der betont, wie sehr er dieses Land liebt?
Martens stellt die Frage nach journalistischer Distanz. Das kann man tun. Es ist aber definitiv der falsche Anlass und die falsche Zeit dafür. Denn Erdogans Handeln und die Entwicklung der Türkei lassen sich wohl kaum mit distanzlosem Patriotismus einer Handvoll Medienvertreter begründen. Das kann nur zynisch wirken – und das hätte vor allem ihm als jemand, der selbst Auslandskorrespondent war, klar sein müssen. Spinnt man die ganze Sache journalistisch noch weiter, dann liefert er sogar all den Bereichen Futter, die ohnehin kritisch auf Berechtigungen zur Berichterstattung – und Richtung der Berichterstattung gucken. Zum Beispiel wird es dann für gewisse Kreise legitim zu fragen, ob denn so jemand wie ich, eine Hessin, aus Bayern und Baden-Württemberg adäquat berichten kann. Oder ob Kultur – ohnehin schon auch in den eigenen Reihen marginalisiert – echt von jemandem gemacht werden muss, der Ahnung hat, das kann doch auch gut genug irgendjemand machen, ist doch nur Kultur. Was ist dann eigentlich noch journalistisches Können, was Expertise und was Herkunftsjournalismus? Und wer entscheidet das, wann das so ist und ob das okay ist für die Berichterstattung oder nicht?
„Migrantenkinder, die nur über Migration schreiben“ - da sagt Herr Martens „Gähn“.
Wie soll es denn aber anders gehen? Und wer hört sonst Migrantenstimmen und -probleme überhaupt an im Journalismus und gibt ihnen ein Forum? Mal abgesehen davon, dass „Migrantenkinder“, egal, ob sie Deutsche, Türken oder beides sind, es auch immer noch schwer haben im etablierten, männlichen, weißen Journalismus in Deutschland. Es lässt sich aus der warmen Frankfurter oder Berliner Schreibstube freilich leicht urteilen darüber, ob jemand, der sich freiwillig in kriegsähnliche Zustände begibt, denn eigentlich dafür geeignet ist oder nicht. Man sollte es aber nicht, denn im Zweifelsfall war der Lebenslauf desjenigen oder derjenigen viel steiniger und mit Umwegen verbunden, als wir Kartoffel-Journos uns das je vorstellen können. Und ich darf das sagen, denn ich bin im weitesten Sinne Arbeiterkind. Ich bin die erste in meiner Familie, die Abitur hat (und ob eigentlich alle Abi brauchen für den Journalismus ist auch so eine Frage, aber eine andere).
Jenseits des Journalismus musste ich mit ansehen, wie eine türkische Freundin von mir, Alevitin, nur mit Schwierigkeiten Architektin werden konnte. Und warum? Weil sie keinen deutschen Namen hat. Und es noch nicht mal jemanden interessiert hat, ob sie Deutsche oder Türkin oder beides ist. So viel zu Deutschland im 21. Jahrhundert, Herr Martens, mit inzwischen der vierten Generation nach den Gastarbeitern.
Neben dem Punkt, dass es Deniz nicht hilft, wenn wir uns hier in Diskussionen über Herkunft verlieren, hat mich geärgert, dass die Diskussion über Herkunft überhaupt wieder aufgemacht wird. Wäre denn ein „guter“ Türkei-Korrespondent dann nur ein Bio-Deutscher? Wär' es auch okay, wenn es ein Türke ist, der sich für den deutschen Pass entschieden hat? Geht eigentlich auch ein Araber (bei dessen Herkunftsmöglichkeiten es ja auch wahnsinnige Unterschiede und ergo Kulturen und Mentalitäten gibt, aber scheiß drauf?)? Oder kann das nur ein Deutscher, und der bitte dann aus dem Bürgertum? Was für eine Rolle spielt das überhaupt? Es ist doch nicht nur derjenige Türke, der auch einen türkischen Pass hat, vor allem in Deutschland nicht! Warum können wir in Deutschland das nicht mal hinter uns lassen, warum bricht das Problem seit den 60ern immer wieder auf? Und seit Sonntag frage ich mich, wie viele Kolleg_innen mit Migrationshintergrund eigentlich FAZ und FAS haben und über was die so schreiben (dürfen/müssen/sollen).
Was das alles mit dem neuen Roman „Ellbogen“ von Fatma Aydemir zu tun hat? Zum einen ist Aydemir Journalistin – was selbst 2017 wohl leider immer noch betonenswert ist, wenn man türkischer Herkunft ist. Zum anderen geht es genau darum in ihrem Debüt: Wann ist man Deutscher, wann Türke? Ist man das überhaupt eindeutig? Und was passiert, wenn einen die Gesellschaft entsprechend qua Herkunft stigmatisiert, man sich nicht emanzipieren kann und dann auch noch als türkisches Mädchen den Anforderungshaltungen nicht entspricht? Wenn man von der einen Seite zwanghaft zur Türkin gemacht wird und auf der anderen immer die Deutsche bleibt? Obwohl einem im Jahre 2016 doch alle Möglichkeiten offen stehen sollten, vor allem als Mädchen. Sagen doch immer alle.
Aydemir zeigt mit ihrer tragischen Heldin Hazal aus dem Berliner Wedding, dass das Gegenteil der Fall ist. Und es ist verstörend für den deutschen oder generell westlichen Leser, weil es dafür objektiv keine Erklärungen zu geben scheint. Hazal klaut kurz vor ihrem 18. Geburtstag einen Lippenstift und wird erwischt. Einfach so, nicht weil sie ihn unbedingt haben möchte. Dem Ladendetektiv, der Klischees bestätigt sieht, kann sie sich nicht erklären, will sie irgendwann auch nicht mehr. Eine richtige Ausbildung hat sie nicht, Abitur nachholen will sie nicht. Hazal ist in einer Berufsbildungsmaßnahme, die sie hasst, und jobbt ab und zu in der Bäckerei ihres Onkels. Wo sie regelmäßig Geld stiehlt, mindestens für ein Päckchen Zigaretten.
Zu Hause hat sie null Privatsphäre, ihr jüngerer Bruder darf alles und wird nichts gefragt, sie immer. Um zu entfliehen, geht sie ab und zu zu einem russischstämmigen Dealer, der für sie und ihre Freundinnen ein bisschen Gras gegen Gesellschaft locker macht. Und dann ist da noch Mehmet in Instanbul, den sie über Facebook kennen gelernt hat und von dem sie sich einbildet, er könnte der Mann für sie sein. Natürlich dürfen das ihre Eltern nicht wissen. Ihren 18. will Hazal mit Freundinnen groß feiern. Heimlich ausgehen. Allerdings kommen sie ins Berghain nicht rein. Auf der Heimfahrt, unter Frust, einfach so, weil er ihnen doof kommt, machen die drei Mädels einen Studenten in der U-Bahn-Station von der Seite an. Es kommt zum Streit, zum Handgemenge, zu Tritten, als der junge Mann auf dem Boden liegt, zum finalen Tritt von Hazal, der den „Studentenkörper“, wie Hazal ihn in der Folge nur abstrakt nennen wird, hinunter befördert ins Gleis, wo die nächste einrollende U-Bahn ihn überfährt.
Hazal flüchtet nach Istanbul zu Mehmet, dem sie aber auch nicht erzählt, was passiert ist. In einem Impuls ruft sie eines Nachts ihre Lieblingstante an, die, die vermeintlich anders ist, eigenständig, ohne Mann, emanzipiert, deutsch. Diese kommt nach Istanbul. Als Hazal aber merkt, dass das nur ist, weil sie mit nach Deutschland zurück und sich stellen soll, flieht sie erneut.
Zwischendrin flicht Aydemir die politischen Geschehnisse mit ein. Hazal wird mit einem brutalen Polizeieinsatz in Mehmets Wohnung konfrontiert, da dessen Mitbewohner Kurde ist und als Aktivist von den Polizisten gesucht wird. Im Umfeld waren alle Leute im Sommer davor protestieren auf dem Taksim-Platz. Zwischendrin mehren sich Polizei-Präsenz in Istanbul und willkürliche Straßenkontrollen. „Ellbogen“ endet mit dem Putsch-Versuch – und einer hilflosen Hazal, die nichts mehr hat außer sich selbst, damit aber seltsam glücklich ist – zumindest von familiären und gesellschaftlichen Zwängen befreit. Ein offenes Ende, und der Leser, der das Tagesgeschehen kennt, denkt sich, dass das zwar ein erstrebenswertes Ziel ist, aber es damit in der Türkei, wie sie gerade ist, eigentlich nicht gutgehen kann.
Aydemir bekam für „Ellbogen“ viel Vorschusslorbeeren, aber auch Belanglosigkeit wurde ihr für ihre Geschichte vorgeworfen, Oberflächlichkeit, vor allem von der oben schon erwähnten FAS. Dass man mit ein paar Wochen Stipendien-Aufenthalt in der Türkei und einem rauen, angeeigneten Deutschtürkisch noch lange keinen mitreißenden, gut komponierten Roman schreiben kann. Dass das Thema zwar gut, aber dennoch irgendwie weit hergeholt zu sein scheint.
Und genau das ist der Knackpunkt bei Fatma Aydemirs Romandebüt. Diese Geschichte will nicht logisch sein, weil Hazals Leben eben nicht logisch ist, also zumindest nicht logisch im Sinne von stringent erklärbar. Logisch im Sinne des Scheiterns leider schon, denn es ist eine Geschichte vom Abgeschnittensein. Etwas, das wir Kartoffeln nicht wahrhaben wollen, was aber dennoch in Deutschland 2016 noch möglich ist und auch passiert, höchstvermutlich nicht nur im Roman: dass jemand nichts für sich hat, Hundert Bewerbungen schreibt und dennoch nirgends genommen wird, entfremdet ist, nicht zu sich selbst finden kann, keine Identität hat, keine Chance auf Erfolg. Und das ist gleich doppelt verstörend, wenn derjenige ein Mädchen ist. Von türkischen Jungs erwartet man ja fast schon Entfremdung, Gewaltbereitschaft und kriminelle Karriere, das passt ins Klischee. Wurde auch in den letzten Jahren mehrfach behandelt. Sicherlich erinnert sich noch der ein oder die andere beispielsweise an „Arabboy“ von Güner Yasemin Balci (S. Fischer 2008).
Klauende und hauende Mädels sind, und dazu müssen sie noch nicht mal türkischer Herkunft sein, immer noch ein Tabu, vor allem, wenn es objektiv nicht erklärbar scheint. Wenn die einzige Erklärung ist: Sie will auch gar nicht. Sie bereut den Mord nicht. So wie Hazal in „Ellbogen“. Dann wird es schwierig. Unangenehm. Gesellschaftlich dunkel.
Und genau deswegen braucht es mehr Bücher wie „Ellbogen“ und mehr Frauen wie Fatma Aydemir, die verkopften Kartoffel-Journalisten sagen: Hey, wir sind da. Und zwar nicht nur dort, wo ihr euch uns vorstellen könnt, wo ihr uns einen Platz eventuell zuweist.
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