Es ist mit den Internet-Serien von Streaming-Diensten genauso wie mit den Serien im Fernsehen: Einige fallen auf, andere nicht; einige haben bessere Werbung und/oder Lobby als andere; einige treffen den Nerv der Zeit, andere nicht.
Ich habe mich ja schon gewundert, dass die Amazon-Prime-Serie "Good Girls Revolt" über Frauen in den Medien in den 70ern in Deutschland so wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Immerhin wurde die (wahre) Geschichte von Diskriminierung und Benachteiligung dann entdeckt, um sie mit dem jetzigen Fall einer ZDF-Journalistin zu verknüpfen, die geklagt hatte, weil sie genauso wie ihre Kollegen bezahlt werden wollte. Revision steht noch aus.
Serien mit lesbischem oder queerem Plot haben es da noch schwerer, im linearen Fernsehen ja auch, siehe die ZDF-Koproduktion "Modus", aber im Netz erst recht. Eine Ausnahme: "Orange is the new Black" auf Netflix, direkt gefolgt auf Amazon Prime von "Transparent", die immerhin schon in Staffel 3 ging, die vierte Staffel wird gerade gedreht.
Dann kommt aber lange nichts. Dabei gibt es diese Serien, gibt es Vielfalt, aber sie wird nicht wahrgenommen. Zum Beispiel im Fall der Amazon-Prime-Serie "One Mississippi", die Ende letzten
Jahres fast zusammen mit "Good Girls Revolt" im deutschen Teil des Streamingdienstes anlief. "One Mississippi" ist das Projekt der in Deutschland ebenfalls wenig bekannten lesbischen Komikerin
Tig Notaro, mit vollem Namen Mathilde O'Callaghan Notaro. Notaro ist seit 2015 mit ihrer Freundin verheiratet und hat zwei Kinder. Und sie hat ein schweres Schicksal gemanagt,
und zwar öffentlich in ihrer Stand-up-Show: Sie hatte Brustkrebs, beide Brüste mussten ihr abgenommen werden, sie haderte sehr mit den Spätfolgen der Krankheit und versteckte sich bei all dem
nicht. Ihre sechsteilige Serie "One Mississippi" ist semi-autobiografisch, denn auch hier hat die Protagonistin, die Radio-Moderatorin Tig, gerade eine Brustkrebserkrankung hinter sich, kämpft
mit der On-Off-Beziehung zu ihrer jüngeren Freundin und kehrt Hals über Kopf von LA in ihre Heimatstadt in Mississippi zurück, da ihre Mutter gestorben ist. Dort entdeckt sie mit ihrem ihr
ziemlich konträren Bruder ein Familiengeheimnis und schlägt sich, in einer Art späten Midlife Crisis, weiterhin mit der Frage herum, was sie eigentlich vom Leben will und das Leben von
ihr.
"Wir sind Erwachsene, auch wenn man uns das nicht anmerkt."
Tod, Krebs, Familienchaos, Beziehungschaos - All das klingt sehr tragisch, viel Leid auf einmal. Nebenbei geht es auch noch um das komplizierte Bruder-Schwester-Verhältnis, die Frage nach der "richtigen" Trauer und dem richtigen Leben im falschen; mit Vergewaltigung, Ehe-Gefängnis, Abtreibung, sexueller Gewalt, Rollen-Erwartungen etc. noch um ganz viele andere, zum größten Teil unangenehme Aspekte des Frau-Seins, Essen als Kontemplation, das Verhältnis zum eigenen Körper, ... Kann das in einer Serie überhaupt funktionieren, wo wir gerade bei den Internet-Serien so auf Action und Superheroes geeicht sind? Erstaunlicherweise ja.
"Vielleicht hattest du ja deswegen Krebs, weil du alten Schmerz nicht loslässt."
Notaro hat es buchstäblich geschafft, Trauer und Tragik in Komik zu drehen, und das ist nicht nur eine Therapie für sie selbst, sondern hat tatsächlich gleichsam unterhaltenden und bildenden Charakter für die Zuschauer. Denn gerade bei Krebs, der Krankheit, über die wir inzwischen so viel wissen, aber dann doch wieder nicht, hat jede/r seine/ihre Meinung, oft verbunden mit Ideologien, gibt es Privat-Diagnosen, ungefragt werden sie den Kranken entgegengeschleudert. Und die sind nicht mehr Herr bzw. Dame ihres eigenen Körpers - und das im weiblichen Fall besonders schlimm, wo es für Frauen doch sowieso so schwer ist, die Macht über ihren eigenen Körper zu erlangen und zu behalten. Das ist auch ein wesentlicher und gut gespielter Aspekt in "One Mississippi".
Weder ist das insgesamt alles pathetisch und gerade in Bezug auf die Krebs-Erkrankung von oben aufgedrückt, noch wirkt das seltsam, weil da jemand in seinem ganz persönlichen Universum uns seine ganz persönliche Geschichte erzählt, die uns zum unbequemen Voyeur macht. Nein, man darf und sollte Witze über Krebs und den Tod machen, Tig ist ganz nebenbei und auf herrlich "normale" Weise lesbisch, ohne dass Homosexualität und Homophobie plakativ als Problem behandelt werden, und auch wenn man bei der ein oder anderen Szene tatsächlich mal schlucken oder sogar eine Träne verdrücken muss: "One Mississippi" ist tatsächlich witzig und komisch. Durch Lebensnähe. Hier ist eine Frau, die in ihrer mehrfachen Außenseiterin-Rolle als Vorbild taugt, mit der man sich indentifiziert, einfach weil sie so authentisch ist.
Im deutschen Raum habe ich nicht wirklich was dazu gefunden, beim britischen "Guardian" gab es diesen wunderbaren Artikel, und hier ist ein noch wunderbareres Porträt.
Damit tritt in meinen Augen Tig Notaro die veritable TV-Nachfolge von Ellen DeGeneres an, die ihre Comedy-Serie "Ellen" in den 90ern ebenfalls mit autobiografischen Bezügen und der indirekten Aufklärung über Homosexualität, also ihr Lesbisch-Sein, gestaltete. Unvergessen die Doppel-Coming-Out-Folge, die sie letztendlich auch den Arbeitsplatz kostete. Ein Meilenstein für die Visibility von lesbischen Frauen - und das eigentlich ganz nebenbei, wenn man jetzt rein nach dem TV-Plot geht. "Das Private ist politisch" - dieser Spruch aus der ersten Frauenbewegung gilt immer noch, und zwar global. DeGeneres hat der Community damit einen Bärendienst erwiesen, Notaro tut das jetzt auch, und man kann nur auf breitere Wahrnehmung hoffen. Verdient hätte es die Serie alle mal. Und hoffentlich wird sie fortgesetzt.
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